"Endlich einmal jenseits von Gut und Böse!"

"Authorized transgressions" and women in wartime

Dass der Kampf auf dem Schlachtfeld, dem Reich männlicher Aggression, ein Ventil für den männlichen Sexualtrieb bieten sollte, erschien offensichtlich.” (Roger Chickering)

“Vergewaltigungen waren weit verbreitet, doch eine Ermittlung der Gesamtzahl ist angesichts der Schwierigkeiten, dieses Verbrechen zu erfassen, unmöglich.” (John Horne, Alan Kramer)

Gesellschaftszustand Krieg

Wenn derzeit Zeithistoriker wie Gerd Krumeich im Weltkrieg von 1914 bis 1918 “eine der prägenden Erfahrungen dieses Jahrhunderts, vielleicht sogar die entscheidende Prägung” ausmachen, mit der sich jede Generation “im Lichte der alten Erkenntnisse und neuer Erfahrungen und der aus der eigenen Lebenswelt gewonnenen theoretischen Ansätze”1 erneut beschäftige, wäre es an der Zeit, zu fragen, inwiefern dieser vor hundert Jahren stattgefundene Krieg die Geschlechterordnung der westlichen Welt geprägt hat. Und die weit darüber hinausgehende Einschätzung Wolfgang Mommsens, der im Ersten Weltkrieg “in gewissem Sinne die Todeskrise des alten bürgerlichen Europas” ausmacht, durch den “große Teile der Vorkriegsordnungen und Institutionen zerstört, vor allem aber die sozialen Strukturen in erheblichem Umfang verändert”2 worden seien, wirft die Frage auf, inwiefern davon auch die Ausprägung der Geschlechtscharaktere, das Verhältnis der Geschlechter zueinander und deren Handlungsoptionen erfasst werden. Um den Subjektstatus der Geschlechter in einem jeweiligen Gesellschaftssystem bestimmen zu können, sind drei Nachfragen nach wie vor elementar: 1. die nach der ökonomischen Unabhängigkeit bzw. nach der Möglichkeit, den Lebensunterhalt selbständig bestreiten zu können, 2. die nach den staatsbürgerlichen Rechten und Partizipationsmöglichkeiten in der öffentlichen Sphäre und 3. die nach der sexuellen Selbstbestimmung, d.h. nach der Verfügung über den eigenen Körper und seinen reproduktiven Fähigkeiten. Zu fragen ist demnach, inwiefern der Erste Weltkrieg die auf einer komplementären Öffentlichkeits- bzw. Privatsphäre basierende komplementäre Geschlechterordnung beeinflusst, verändert oder neu geordnet und befestigt hat.

Käthe Kollwitz’s “The Grieving Parents” (1932), Vladslo German war cemetery, Belgium. Photo: milo-profi photography / visitflanders. Source:Flickr

Kennzeichnend für den Ersten Weltkrieg ist zunächst die Einbindung der gesamten Gesellschaft in die Kriegführung, eine Einbindung, die sowohl klassische Vorstellungen von räumlichen Segregationen der Kriegschauplätze als auch arbeitsteilige gegenderte Aufgabenzuteilungen obsolet werden lassen. Stattdessen gewinnt der Krieg für Männer und Frauen der kriegführenden Staaten sehr komplexe, mannigfache Bedeutungen. “Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden in den meisten Staaten moderne Nationalarmeen, nicht wenige auf der Basis einer neu eingeführten allgemeinen Wehrpflicht. Die Mobilisierung wachsender Teile der männlichen, wie an der ‘Heimatfront’ auch größer werdender Teile der weiblichen, Bevölkerung für den Krieg erreichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Ersten Weltkrieg, dem ersten industrialisierten und hoch technisierten ‘Massenkrieg’, einen vorläufigen Höhepunkt.”3 Frauen lassen sich im Szenario des Ersten Weltkriegs nicht nur an der in diesem Krieg erstmals als solche bezeichneten “Heimatfront” ausmachen, an der ihnen eine dem Krieg Sinn verleihende Position als Heldenmutter und treusorgende Ehefrau oder sehnsüchtig wartende Geliebte zugewiesen wird und an der sie männliche Arbeitskraft ersetzen und Familien versorgen.4 Als Krankenschwestern in Frontlazaretten, als (erstmals in diesem Krieg als solche eingesetzte) Etappenhelferinnen,5 als Bäuerinnen, denen Kriegsgefangene als Arbeitskräfte zugewiesen wurden, waren Frauen nicht nur dem Erfahrungsfeld von Soldaten, und dem, was diese im Krieg erlebten und taten, nahe, sondern auch direkt in das Kriegsgeschehen involviert.

Den Ersten Weltkrieg als einen “mit nationalen Interessen legitimierten sogenannten Volkskrieg” zu kennzeichnen, impliziert, ihn als einen Gesellschaftszustand wahrzunehmen, der, wie Ute Daniel feststellt, erst dann beschrieben wäre, ” …wenn herausgearbeitet worden ist, als was für ein Ereignis mit welchen Folgen er von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Schichten etc. wahrgenommen worden ist, d.h. wie viele Erste Weltkriege es gewissermaßen gab und wie sie jeweils beschaffen waren.”6

Zu untersuchen wäre, wie der Krieg in seinem Verlauf die jeweiligen Akteure positioniert, welche Optionen und welche Zumutungen er für sie bereithält, wie in ihm gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, maßgeblich die Ordnungsstruktur einer komplementären Geschlechterordnung und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung festgeschrieben, modifiziert oder überwunden werden, welche Opfer er von wem abverlangt bzw. welche Gratifikationen er für wen bereithält.

Zunächst schien das Rubrum einer alle vereinenden nationalen Identifikation dazu angetan, Interessensdivergenzen und soziale Konflikte mithilfe eines “Burgfriedens” ruhen lassen zu können, wenngleich die “Sorge, dass der kommende große europäische Krieg, den viele erhofften und andere befürchteten, die meisten aber früher oder später erwarteten, eine neue, bisher unbekannte Qualität annehmen und die überkommenen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen untergraben könnte”,7 bereits vor 1914 umging. Die breit konstatierte, wenn auch mittlerweile hin und wieder in ihrem Ausmaß angezweifelte Kriegseuphorie8 vom August 1914, “von einer ungeheuren Flutwelle nationaler Begeisterung, die zwar in erster Linie von den bürgerlichen Schichten getragen wurde, darüber hinausgehend nahezu ausnahmslos die breiten Schichten der Bevölkerung erfasste”9, erfasste unübersehbar auch Frauen. In allen kriegführenden Staaten drängte sich die jüngere Generation, als Kriegsfreiwillige in den Dienst der eigenen Nation zu treten und wurde nicht selten von Müttern darin bestärkt, ja geradezu zu diesem Schritt gedrängt.10 Die schweren politischen und sozialen Konflikte der Vorkriegsjahre schienen vergessen; die Geschlossenheit der Nation im Kampf um die eigene nationale Selbstbehauptung schien alle Klassen und Schichten des Volkes zu einigen.”11 Mit dem Fortschreiten des Kriegs erwies sich der ‘Burgfrieden’ jedoch als brüchig und zunehmend als Fassade, hinter der die alten politischen Konflikte mit unverminderter Schärfe ausgetragen wurden. Vornehmlich durch ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft, ihre kriegswichtige Erwerbsarbeit in der Rüstungsindustrie und ihren Kampf um eine gerechte Verteilung der knappen Lebensmittel kam Frauen in diesen Kämpfen eine Schlüsselrolle zu,12 die ihnen jedoch zunächst keine Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen oder größere Bewegungsfreiheit einbrachte. Zwar gewährte der Staat den Kriegerfrauen materielle Unterstützung, koppelte diese jedoch an ein soziales Kontrollsystem, um “Auswüchse” autonomen sozialen Handelns zu bekämpfen.13

Gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit/Einsatz/Leistung trug nicht dazu bei, Frauen als gleichberechtigt handelnde Subjekte zu betrachten, sondern blieb gekoppelt an gegenderte, vielfach ambivalente Wesenszuschreibungen. Die als “Engel in Weiss” stilisierte entsexualisierte Frontlazarettschwester etwa konnte dabei leicht zur frivolen Liebesabenteurerin mutieren.14

Die vornehmlich in den Kreisen der bürgerlichen Frauenbewegung gehegte Hoffnung, über ein patriotisches Engagement die Verbannung der Frau in die Privatsphäre durchbrechen, staatsbürgerliche Anerkennung, gleichberechtigten Zugang zu Bildung, ökonomische Unabhängigkeit durch Berufstätigkeit gewinnen zu können, erfüllten sich nur rudimentär. Die Heldenmütter und Soldatenbräute waren angehalten, ihre Söhne und Männer zum Kämpfen und Durchhalten zu motivieren – eine über Imaginationen und Selbstinszenierungen hinausreichende gesellschaftliche Anerkennung als gleichwertige Akteurinnen blieb ihnen verwehrt.15

Ausnahmezustand Krieg

“Aber der Krieg is Krieg, und da muß man so manches, was man früher nur gewollt hätt.”16

War man zu Beginn des Kriegs davon ausgegangen, er würde sich auf ein kurzes Intermezzo beschränken lassen, wurde sehr bald deutlich, wie hoch der Preis dieses ersten sehr viel länger andauernden industrialisierten Massenkriegs sein würde, den nicht nur die kämpfenden Soldaten, sondern auch die Zivilbevölkerung zu entlehnen hatte.

Wenngleich der durch neue Massenkommunikationsmittel möglich gewordene Einsatz von Propaganda erfolgreich zur Kriegführung beitragen konnte,17 konnten derlei mediale Wirklichkeitsinszenierungen doch nicht gänzlich verborgen halten, welche Schrecken etwa die neue Dimension der Vernichtungskapazität maschineller Waffen bereithielten.18 Dennoch bedarf es offensichtlich einiger Anstrengung, das Augenmerk des Kriegsbetrachters auf die dem Krieg inhärenten Schrecken zu lenken.

Michael Geyer fordert uns explizit dazu auf, über eine Kriegsgeschichte nachzudenken, die vom Tod spricht und “als zentrales Element jeglicher Analyse des Kriegs den von Menschen organisierten und bewerkstelligten Massen-Tod – das System, den Akt und die Folgen des Tötens und Getötet-Werdens”19 in den Blick nimmt. Er verweist damit auf das zentrale Element, das einem Verständnis vom Krieg als einem Ausnahmezustand zugrunde liegt. Dieses Verständnis ist getragen von der Umkehrung des im Zivilleben essentiellen Gebots “Thou shalt not kill” in einen im Rahmen eines kriegshandwerklichen Reglements angesiedelten Imperativs, zu töten, und bereit zu sein, sich töten zu lassen. Es geht mithin um eine ultimative Form der Gewaltanwendung, die mit der Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht von Männern aller Klassen und Schichten ausgeübt und hingenommen werden musste. Gefordert waren nicht nur Subordination, Disziplin und soldatische Tapferkeit, sondern auch Opferbereitschaft, die Bereitschaft, fürs Vaterland zu kämpfen und zu sterben, zum freiwillig gewählten patriotischen Heldentod.

Der Imperativ zum Töten und sich Töten lassen, dessen Umsetzung eingeübt und trainiert werden muss,20 beinhaltet gleichermaßen Zumutungen wie auch die Möglichkeit von Grenzüberschreitungen: das Aushalten und Überwinden von Todesangst und die Erfahrung der Potenz, töten zu können. Etliche, an zeitgenössische normative Übereinkünfte anknüpfende Identitätsangebote wurden bemüht, um die Soldaten nicht nur zur Teilnahme am Krieg zu verpflichten, sondern sie auch zum Kriegshandwerk zu motivieren. Neben Narrativen wie die der Verteidigung von Ehre und Vaterland und der Frauen und Kinder an der Heimatfront scheinen sich dazu auch im Ersten Weltkrieg traditionelle Vorstellungen einer rite de passage zum erwachsenen Mann durch kriegerische Bewährung geeignet zu haben. Das klassische Narrativ vom Helden, der den Gegner besiegt und dem Helden, der tapfer seinem Tod entgegensieht, verstellt zunächst auch hier den Blick auf das handelnde und behandelte Individuum in einer ultimativen Extremsituation und verfehlt, um mit Elaine Scarry zu sprechen, “das Faktum der Schadenszufügung” im Krieg, indem Tod und Schmerz ausgeblendet werden zugunsten einer Imagination, in der Krieg als fairer, ehrenhafter Wettkampf aufscheint.21 Derlei Entwürfe einer ehrenvollen soldatischen Männlichkeit scheinen jedoch nicht hinzureichen, um, wie Joanna Bourke es eindringlich beschreibt, Männer in die Lage zu versetzen, “to cope with the problem of the transition from an identity based upon the Commandment ‘Thou shalt not kill’ to one in which killing was the measure of identity and self-worth.”22 Ein genauer Blick auf das Schlachtfeld eines Kriegs verhilft dazu, zu verstehen, um was es geht, wenn die hier zu beobachtenden Clausewitzschen Friktionen beherrscht und in ein combat-effectives Handeln umgeleitet werden sollen.23 Es geht darum, das Handeln in einer Situation, die bestimmt ist von “extremen Affekten – vom Stupor der Todesangst bis zum Furor des Kampfrausches” zu steuern durch ein “Kontingenzmanagement”, das darauf abzielt, alle Aktivitäten auf die Steigerung des eigenen bzw. die Schwächung des gegnerischen Gewaltpotentials auszurichten.”24

Wie sich derlei Affekten ausgesetzte Individuen in dem Kontingenzraum Schlachtfeld tatsächlich verhalten, wäre noch sehr viel genauer zu beschreiben, so etwa eben ein auch denkbares Widerstreben, im Namen der Nation oder des Staates zu töten oder sich töten zu lassen: “Dieses Widerstreben”, konstatiert Michael Geyer, “wird gemeinhin übersehen”. Die Geschichte dieser “Kriegsunfreiwilligen” – im Unterschied zu derjenigen der “Kriegsfreiwilligen” sei noch nicht geschrieben.25 Wie noch während und nach dem Ersten Weltkrieg mit einem solchen Widerstreben umgegangen wurde, lässt sich am Umgang mit Kriegsneurosen und mit den Soldaten, die unter ihnen zu leiden hatten, ablesen.26 Psychische Störungen, wie sie etwa im Ersten Weltkrieg durch passives Ausharren und die permanente Todesdrohung in den Schützengräben durch den Artilleriebeschuss während des Stellungskriegs an der Westfront ausgelöst wurden, wurden und werden nachhaltig tabuisiert bzw. uminterpretiert, indem etwa Militärpsychiater “dem so genannten Kriegsneurotiker eine wunschbedingte hysterische Symptombildung” attestierten und “ihm eine (unbewusste) Flucht aus dem Krieg in die Krankheit” unterstellten. Verfechter der psychischen Genese unterstellten eine erbliche Belastung, eine innere Abwehr gegen den Kriegsdienst sowie eine gemütslabile Konstitution.27 Die dem “Kriegsneurotiker” unterstellten Symptombildungen sind unüberhörbar einem Repertoire geschlechtsspezifischer Charakteristika entlehnt, die sich kaum mit Männlichkeitsentwürfen vereinbaren lassen, in denen der Krieg als die eigentliche Chance fungiert, männliche Eigenschaften ausleben und zum Ausdruck bringen zu können.

Dirty secrets

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Anführen der Annahme, derzufolge der Wille bestimme, wie die Seele auf äußere Anregungen und innere Vorgänge reagiere. Aufschluss darüber, wie dem Willen dabei nachzuhelfen ist, “äußere Anregungen” im Krieggeschehen in als positiv/zustimmend/lustvoll erlebte innere Vorgänge zu transformieren, lassen sich an durchaus bekannten, aber weitgehend tabuisierten Praktiken kriegerischer Gräuel nachvollziehen.

Joanna Bourke beschreibt, wie geradezu karnevalesk anmutende Tötungsrituale, wie sie an etlichen Kriegsschauplätzen zu beobachten sind, von Soldaten als erheiternd erlebt werden, und meint: “they helped create individual identity as a ‘warrior’ engaged in a life-and-death-struggle, and they helped cement group bonds – comradship between men, all of whom were ‘set apart’ from both their pre-war personas and civilian society ‘back home’ by acts of violence”. Offiziell untersagen militärische Führungen sattsam bekannte Praxen wie das Erstellen und Austauschen einschlägiger Fotos oder den obszönen Umgang mit Körperteilen und Körpern des toten Feindes, während sie dennoch derlei Grenzüberschreitungen (“authorized transgressions”) nach Möglichkeit “übersehen”, da sie sie als “necessary for ‘effective combat performance'” erachten, als Zeichen von “combat effectiveness.”28 Was verleiht diesen zunächst völlig sinnlos, als Grausamkeitsüberschuss erscheinenden Handlungen Sinn? Offenbar dienen sie dazu, der hochgradig tabuisierten und gleichwohl nicht zu übersehenden Tatsache, dass die “Lizenz zum Töten” eine höchst attraktive, aufregende Möglichkeit bietet, eine Grenze zu überschreiten, auf den Weg zu helfen. “In the killing frenzy of combat the fact that the slaughter of fellow human beings could elicit feelings of satisfaction in addition to fear was”, so Joanna Bourke, “the dirty secret that dared not be uttered after the war if combatants were to settle back to their calm civilian lives, un-brutalized.”29 Zu fragen wäre, was aufgeboten werden muss, um derlei Erfahrungen von Grenzüberschreitungen im Zaum eines zu bewahrenden Geheimnisses zu halten? Danach außerdem, ob sie nicht dennoch Wirkungsmacht entfalten, eingehen in ein Repertoire von Handlungsoptionen?

Die Begeisterung, mit der der Kriegsausbruch in Teilen der Bevölkerung (durchaus auch Frauen) begrüßt wurde, scheint u.a. einer Aufbrucheuphorie geschuldet zu sein, die getragen war von einer Begeisterung für gewaltsame Normen- und Grenzüberschreitungen.

“Von der ‘Freiheit der Männer’ war die Rede, die sich von keinen Frauen und keiner Moral der Schuld aufhalten lassen brauchten, wenn es galt, ‘Menschen zittern’ zu lassen:30 ‘Endlich einmal jenseits von Gut und Böse! Endlich einmal Mensch, Unmensch, Übermensch.'”31

Wie stark eine Ästhetik kriegerischer Gewalt erotisch konnotiert war, zeigt sich in Beispielen ungehemmter Männlichkeitskulte, in denen Gewalt als wahre Klimax orgiastischer Lebenserfüllung stilisiert wurden. So zitiert etwa Hans Mommsen Ernst von Salomon, der seine Teilnahme an Gefechten wie folgt beschreibt: “Das Gewehr bebte zwischen meinen Knien wie ein Tier … War es nicht, als spürte ich an den zuckenden Metallteilen des Gewehrs, wie das Feuer in warme, lebendige Menschenleiber schlug? Satanische Luft, wie, bin ich nicht eins mit dem Gewehr? … Hinein in die wirren Haufen, hier ist ein Tor errichtet, wer das passiert, dem wurde Gnade.”32 Und an anderer Stelle: “Das Gewehr bäumt sich und schnellte wie ein Fisch, ich hielt es fest und zärtlich in der Hand, und klammerte seine zitternden Flanken zwischen meine Knie und jagte einen Gurt, den zweiten auch, hintereinander durch.”33

Das Ausleben der Potenz zum Töten mittels einer Waffe mutiert in diesem Beispiel zum sexuellen Akt an sich, in dem ein weiteres Objekt sexueller Begierde geradezu überflüssig zu sein scheint.

Der Kommandant war sehr zufrieden, und wir sollten sogar eine Belohnung bekommen. Vielleicht auch noch dazu das Eiserne Kreuz. Und dann gibt es hier junge Mädchen, die hübsch zu entjungfern sind.34

Wenn Roger Chickering in seinem Werk zum Ersten Weltkrieg im “Der Krieg betrifft alle” überschriebenen Kapitel unter der Rubrik “Geschlecht” konstatiert: “Dass der Kampf auf dem Schlachtfeld, dem Reich männlicher Aggression, ein Ventil für den männlichen Sexualtrieb bieten sollte, erschien offensichtlich”,35 zitiert er ein Narrativ, das umstandslos männliche Aggression und männlichen “Sexualtrieb”36 miteinander verbindet. Die Selbstevidenz, mit der dieses Narrativ vorgetragen wird, unterstellt diese Verbindung als unausweichliches Merkmal einer männlichen Sexualpraxis sexueller Gewaltausübung, von der man weiß, ohne über sie sprechen zu müssen, oder, im Fall der Opfer, sprechen zu können.

John Horne und Alan Kramer stellen in ihrer umfangreichen Studie zum Ersten Weltkriegsgeschehen in Belgien fest: “Vergewaltigungen waren weit verbreitet, doch eine Ermittlung der Gesamtzahl ist angesichts der Schwierigkeiten, dieses Verbrechen zu erfassen, unmöglich.”37 Worin bestehen diese Schwierigkeiten? Zum einen offenbar unausgesprochen darin, dass, im Gegensatz zu anderen Gewalttaten, sexuelle Gewaltdelikte auf einer Nahtstelle zwischen kriegsbedingtem Handeln und einem auch im Zivilleben praktiziertem Handeln zu verorten sind: “War is one occasion when rape scripts diverge from the individualist canon of legal and psychiatric practice and enter fully into everyday mass culture.”38 So heißt es etwa in den von den Autoren zitierten Berichten der alliierten Untersuchungskommissionen: “Alle alliierten Untersuchungskommissionen gelangten zu dem Schluss, Vergewaltigungen seien – in der Formulierung der Franzosen – in einer ‘unerhörten Häufigkeit’ vorgekommen, jedoch waren sie sich unschlüssig, wie sie dieses Delikt einordnen sollten. Sie waren der Meinung, dass der Zusammenhang zwischen Vergewaltigung und einer – wahrgenommenen – deutschen Politik des systematischen Terrors weniger ausgeprägt war als bei anderen ‘Greueltaten’ und setzen es an das individualistische Ende des Spektrums von Kriegsverbrechen.”39 (Hervorhebung GZ).

Zum anderen verweist das Narrativ auf die Rolle der Opfer im Prozess des Verschweigens oder auch Tabuisierens: “Die von den Opfern empfundene Scham führte zu einer Unterschätzung der Häufigkeit des Delikts. … Die Belgische Kommission sprach die Vermutung aus, Fälle von Vergewaltigungen würden ‘von den Familien natürlich verborgen gehalten'”40 (Hervorhebung GZ). Diese “Rücksichtsnahme” gegenüber den durch sexuelle Gewalt “beschämten” Opfern macht nur Sinn, wenn die Taten an sich als selbstevident und unvermeidlich gedacht und den Opfern eine Mitverantwortung an ihrem Zustandekommen unterstellt werden.

“DIE WEIBLICHEN HILFSKRÄFTE:
Wir, die Wehrmacht zu entzücken,
eingerückte Heereshuren,
kehren nunmehr euch den Rücken
als Brigade der Lemuren.

Opfernd heldisches Verlangen,
angesteckt von eurem Mute,
Rosen blühn uns auf den Wangen
Und die Syphilis im Blute”41

Eine entscheidende Voraussetzung dafür, die Praxis der Ausübung sexueller Gewalt im Krieg erfassen zu können, ist die Auflösung dieser Selbstevidenz-/Unvermeidlichkeits- und Mitverantwortungsnarrative zugunsten einer Perspektive, die in den Blick nimmt, wo, wann und wie sich Männer und Frauen im Krieg begegnen,42 wie Männer und Frauen positioniert sind und welche scripts von sexueller Verfügbarkeit versus sexueller Selbstbestimmung die Haltung der Akteure im Krieg bestimmen.

Geschlechterstereotype fungieren als soziale Ordnungsleistung. Sie zählen zu den Tiefenstrukturen des sozialen Wissens, in denen Alltägliches und vermeintlich Selbstverständliches gespeichert wird – unhinterfragte Gegebenheiten, die intuitiv “gewusst”, aber selten reflektiert, geschweige denn in Frage gestellt werden. Diesen unhinterfragten Gegebenheiten ist die Rolle der Gewalt zuzuordnen, die dieser bei der Strukturierung sozialer Beziehungen, hier insbesondere der Geschlechterbeziehungen zukommt.

Die Ausübung sexueller Gewalt lässt sich vor diesem Hintergrund – ob kontingent in einem Gelegenheitsraum ausgeübt oder gezielt in Kampfhandlungen integriert – als Mittel zur superioren Selbstpositionierung gegenüber einem unterlegenen Opfer/Feind lesen. Sie ist weder selbstevident noch unvermeidlich, noch unbeschreibbar – sie ist beschreib- und auffindbar als bewährtes Mittel zum Zweck.

Gerd Krumeich, "Kriegsgeschichte im Wandel", in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993, S. 11; www.erster-weltkrieg.clio-online.de/portal/alias__Rainbow/lang__de/tabID__40208180/DesktopDefault.aspx

Wolfgang J. Mommsen, "Der Erste Weltkrieg und die Krise Europas", in: Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hg.), S. 27

Karen Hagemann, Vorwort, in: Karen Hagemann, Ralf Pröve (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel. Frankfurt am Main 1998, S. 17

Vgl. dazu Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995

Vgl. dazu Bianca Schönberger, "Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. Rotkreuz-Schwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg", in: Karen Hagemann, Stefanie Schüler-Springorum (Hg.) Militär und Geschlechterverhältnissen im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt am Main 2002, S. 108-127

Ute Daniel, "Der Krieg der Frauen 1914-1918: Zur Innenansicht des ersten Weltkriegs in Deutschland", in: Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hg.), S. 132

Wolfgang Mommsen, a.a.O. S. 26

So etwa jüngst in Christa Hämmerles Arbeit: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des ersten Weltkriegs in Österreich Ungarn. Wien, Köln, Weimar 2014

Wolfgang Mommsen, a.a.O.

So beschreibt Dorothee Wierling in ihrer Arbeit Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918 (Göttingen 2013), wie nachhaltig Lilly Braun ihren Sohn Otto zur Teilnahme am Krieg "motiviert" hat, wobei interessanterweise der Vater eher Versuche unternahm, den Sohn, wenn nicht davon abzuhalten, so doch vor einschneidensten Erfahrungen zu schützen. Regina Schultes Essay "Käthe Kollwitz' Opfer" beschreibt den hohen Preis, den Kollwitz für ihre Selbststilisierung als den Sohn opfernde "Heldenmutter" zu zahlen hatte. In: dies., Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod. Frankfurt am Main 1998

Wolfgang J. Mommsen, a.a.O., S. 26

Vgl. dazu Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1989

Vgl. dazu Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995

Christa Hämmerle, a.a.O., Kapitel "Seelisch gebrochen, körperlich ein Wrack...", S. 27-54

Vgl. dazu Regina Schulte, Die verkehrte Welt des Krieges; Karen Hagemann, "Heldenmütter, Kriegerbräute und Amazonen. Entwürfe "patriotischer" Weiblichkeit zur Zeit der Freiheitskriege", in: Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997, S. 174-200; Dorothee Wierling, Eine Familie im Krieg.

Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors, herausgegeben von Eckart Früh, Frankfurt am Main 1992, S. 35

Nicoletta F. Gullace beschreibt dezidiert, wie gegenderte Propaganda erfolgreich zum Einsatz kam: Dies., "Sexual Violence and Familiy Honor: British Propaganda and International Law during the First World War", in: American Historical Review 102, Nr. 3 (Jun., 1997), S. 714-747. Dies., "War Crimes or Atrocity Stories? Anglo-American Narratives of Truth and Deception in the Aftermath of World War I", in: Elizabeth D. Heineman (Hg.), Sexual Violence in Conflict Zones. From The Ancient World to The Era of Human Rights. S. 105-21, Philadelphia 2011

Vgl. etwa Aribert Reimann, "Wenn Soldaten vom Töten schreiben -- Zur soldatischen Semantik in Deutschland und England, 1914-1918", in: Peter Gleichmann, Thomas Kühne (Hg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004

Michael Geyer, "Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht", in: Mittelweg 36, 2/1995, S. 57

Vgl. dazu: Frank J. Barrett, "Die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit in Organisationen: Das Beispiel der US-Marine", in: Christine Eifler, Ruth Seifert (Hg.), Soziale Konstruktionen - Militär und Geschlechterverhältnisse, Münster 1999, S. 71-93 Ulrich Bröckling, "Schlachtfeldforschung. Die Soziologie im Krieg", in: Steffen Martus, Marina Münkler, Werner Röcke (Hg.), Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Berlin 2003

Elaine Scarry verweist darauf, wie sehr die Auflösung dieser Konnotation Krieg/Wettkampf den proklamierten Sinn und Zweck vom Krieg in Frage stellt, worauf an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden kann. Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main 1992

Joanna Bourke, "The Killing Frenzy. Wartime Narratives of Enemy Action", in: Alf Lüdtke, Bernd Weisbrod (Hg.), No Man's Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century, Göttingen 2006, S. 123

Ausführlicher in: Gaby Zipfel, "Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung", in: Insa Eschbeach, Regina Mühlhäuser (Hg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008

Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamkeitsproduktion, München 1997

Michael Geyer, "Eine Kriegsgeschichte", a.a.O., S. 64

Vgl. dazu Jason Crouthamel, "'Hysterische Männer'? Traumatiserte Veteranen des Ersten Weltkrieges und ihr Kampf um Anerkennung im 'Dritten Reich'"; Philipp Rau, "Von Verdun nach Grafeneck. Die psychisch kranken Veteranen des Ersten Weltkrieges als Opfer der nationalsozialistischen Krankenmordaktion T4", in: Babette Quinkert, Philipp Rauh, Ulrike Winkler (Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914-1950. Göttingen 2010

Babette Quinkert, Krieg und Psychiatrie, Einleitung, S. 14

Joanna Bourke, "The Killing Frenzy", S. 123

Joanna Bourke, "The Killing Frenzy", S. 125

Thomas Kühne, "Massen-Töten. Diskurse und Praktiken der kriegerischen und genozidalen Gewalt im 20. Jahrhundert", in: Peter Gleichmann, Thomas Kühne (Hg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004, S. 41

Aus: Der Weiße Ritter. Zeitschrift des jungen Deutschland 5, 1923, S. 86, zit. n. Thomas Kühne, ebd.

Ernst von Salomon, Die Geächteten, Gütersloh 1930, S. 114, zit. nach: Hans Mommsen, "Militär und zivile Militarisierung in Deutschland 1914 bis 1918", in: Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 271

ebd., S. 141f

Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt am Main 1986, V. Akt, 6. Szene

Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 147

Zum Verhältnis von Sexualität und Gewalt vgl. Gaby Zipfel, "Sexualität und Gewalt", in: Christian Gudehus, Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 83-90

John Horne, Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2004, S. 121

Joanna Bourke, Rape. A History from 1860 to the Present. London 2007, S. 386

John Horne, Alan Kramer, a.a.O., S. 290

ebd.

Karl Kraus, a.a.O., 1992, S. 221

Arbeiten wie die von Lisa M. Todd, "'The Soldier's Wife who ran away with the Russian': Sexual Infidelities in World War I Germany". In: Central European History 44 (2011), S. 257-78, Conference Group for Central European History of the American Historical Association, geben interessante Einblicke in Bedingungen, unter denen sich Frauen und Männer im Krieg begegnen und wie die Gesellschaft auf diese Begegnungen reagiert.

Published 25 April 2014
Original in German
First published by Eurozine

© Gaby Zipfel / Eurozine

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